Kapitel 2

Dino, der Digitalisierungsexperte

Einhorn Dino

Wovon man keinen blassen Schimmer hat, hat grosses Potenzial, ein neuer Hype zu werden. So auch das Thema Digitalisierung. Während langer Zeit in aller Munde, ohne dass dessen Inhalt und Umfang wirklich verstanden wurde. «In Zeiten der Digitalisierung…», so begann jeder zweite Satz im Business Kontext.

Solange die Story interessant klingt, ist der Inhalt sekundär.

Da ich mich von Berufs wegen tendenziell zukunftsgerichteten Themen widme und für attraktive Referate bekannt war, dauerte es nicht lange, bis ich Anfragen für Vorträge und Keynotes zum Thema Digitalisierung erhielt. Anfangs dachte ich, dass der Inhalt meiner Reden von Bedeutung sei, weshalb meine Antwort stets dieselbe war: «Gerne werde ich ein Referat halten, hingegen von den neuen Technologien habe ich keinen blassen Schimmer. Da Digitalisierung, verstanden als Transformation im digitalen Kontext, insbesondere einen kulturellen und organisatorischen Wandel der Zusammenarbeit für mehr Kundenzentrierung bedeutet, kann ich mich gerne auf diese Aspekte konzentrieren.»

«Jaja, passt schon», war die Antwort; was so viel heisst wie «erzähl einfach irgendwas, Hauptsache es macht Eindruck». Voilà, es ging einmal mehr um die Unterhaltung und nicht um den Inhalt. Denn es ist wesentlich angenehmer, sich Geschichten anzuhören, anstatt ein längst reifes Thema anzupacken. Infolgedessen zögerte ich nicht, mich auch ans Thema Digitalisierung zu wagen; ich könnte ebenso gut über das Balzverhalten von Eintagsfliegen referieren; solange die Story interessant klingt, ist der Inhalt sekundär.

Die Welt wäre wohl ein Ort der Stille, würden sich Menschen nur zu Themen äussern, von denen sie wirklich eine Ahnung haben.

Ich bin und war noch nie einzigartig. Vor allem war ich nicht der einzige Speaker, der nur wenig Ahnung vom Thema seiner vordergründigen Expertise hatte. Gerade in der Innovations-, Startup- und New Work-Branche ist dieses Phänomen relativ verbreitet: Viele Themen hat man an der Oberfläche bald verstanden, um darüber schlaue Worte zu verlieren. Doch die Komplexität liegt meistens in der Tiefe. Die Welt wäre wohl ein Ort der Stille, würden sich Menschen nur zu Themen äussern, von denen sie wirklich eine Ahnung haben. Insbesondere herrscht in unserer Zunft und eine Art Arbeitsteilung: Es gibt auf der einen Seite die Arbeitsbienen und auf der anderen Seite die Redner- und Schreiberbienen. Erstere sind mit der täglichen Innovationsarbeit absorbiert. Zweitere konzentrieren sich darauf, darüber zu schreiben und zu referieren; oft ohne viel Bezug zur Realität. Meinerseits verorte ich mich, ich gestehe es ein, knapp in der Mitte. Doch beim Thema Digitalisierung war ich absoluter Benchmark in Sachen heisse Luft produzieren. Beinahe ein Trendsetter.

Dafür müssen Sie das Ausmass meiner Inkompetenz verstehen. Ich bin der unschlagbare Digital-Tollpatsch. Meine Unfähigkeit ist selbst verschuldet, denn das Computer-Zeugs hat mich nie fasziniert, weshalb ich diese Kompetenz vernachlässigte oder sie durch Familie, Freunde oder Geschäftspartner kompensierte. Das glauben Sie mir nicht? Hier einige Veranschaulichungen: 1980er Jahre, klein Dino hackte die eine Taste auf dem Commodore 8-Bit-Heimcomputer mit 64 KB Arbeitsspeicher 100 Mal bis zum Anschlag durch, weil irgendwas nicht lief, wie ich wollte. Anstatt zu überlegen, wie ich mir selbst helfen könnte, rief ich einfach nach Mama und Papa, die es wieder zurechtgebogen. Meine erste E-Mail hat mir mit 20 Jahren ein Freund in letzter Minute vor meiner Südamerikareise eingerichtet, als er sah, wie ich beim Versuch, es selbst zu tun, den Apple-Adapter mit der Maus verwechselte. Auch mein Facebook-Account wurde zehn Jahre später von fremder Hand aufgesetzt, weil ich die Logik dahinter nicht verstand. Sie sehen, ich bin der geborene Digitalisierungsexperte, ein natural digital expert, auf dessen Inputs die Welt gewartet hatte.

Scheiss Technik.

Zurück zu meinen Digitalisierungs-Vorträgen. Bei der Vorbereitung und Durchführung ging es meistens folgendermassen vor sich: Für die PowerPoint klaute ich Bilder im Internet zusammen, wofür ich regelmässig Bussen kassierte. Bei Keystone habe ich unterdessen eine Flatrate für Bilderpiraterie. Meistens speicherte ich die Präsentation falsch formatiert, so dass man am Tag des Vortrags auf den Folien nichts erkennen konnte; oder ich speicherte es in der Cloud, zu dessen Zugang ich das Passwort nicht gespeichert hatte. Vor Ort schloss ich das falsche Kabel am Laptop an und drückte erfolglos auf der Fernbedienung für die Sonnenstoren anstatt für den Beamer herum. Scheiss Technik. Doch solange ich ein Referat halten konnte, wiegte ich mich in relativer Sicherheit, denn ich wusste, worüber ich erzählen würde und welche Themen ich umschiffen konnte, weil ich davon noch weniger Ahnung hatte als vom Rest. Viel schwieriger wurde es bei Podiumsgesprächen, sei dies als Gast oder in der Rolle des Moderators. In der Regel war ich der einzige auf der Bühne, der nicht ein Hauch des Inhalts verstand und nur selten eine direkte Antwort auf eine Frage geben konnte. Meine Strategie, solche heiklen Momente mit einer Salve Buzzwords zu kompensieren, hatte ihre Grenzen. Persönlich hatte ich kein Problem damit, keinen Plan zu haben. Schamgefühl war mir ein Fremdwort. Und auch wenn das Publikum genauso wenig verstand wie ich, dabei trotzdem beste Unterhaltung bekam, so empfand ich es gegenüber den anderen Podiumsgästen doch etwas respektlos, wenn meine Aussagen nur Eigentore waren. Die Podiumsdebatte machte auf diese Weise keinen Spass. Doch es lebe der digitale Fortschritt, in Form von kleinen Ohrknöpfen. So konnten Thomas und Miriam, meine Geschäftspartner und digitale Assistenten, die viel mehr Ahnung hatten als ich und eigentlich auf die Bühne gehörten, mir laufend die Fachbegriffe in leichte Sprache übersetzen und einflüstern. So ging die Sache mit den Podien und Vorträgen relativ glimpflich aus.

Die Strategie der Delegation: Wenn du überfordert bist, delegiere die Sache an andere, ohne dir etwas anmerken zu lassen.

Viel gravierender war das Ergebnis im Umgang mit unseren Firmen-Datenbanken. Hier zeigte sich das wahre Ausmass meiner Digital-Expertise. Abgesehen von Netflix-Serien nervt mich eigentlich alles, was am Bildschirm passiert. Vor allem Popup-Fenster, die ständig aufleuchten wie «Ihr Passwort läuft ab», «Ihr Computer wurde von einem Virus befallen», die ich konsequent ignoriere und wegklicke. Wer durch Komplexität überfordert ist, versucht durch Vereinfachung Ordnung zu schaffen, weshalb ich Ordnung durch Daten löschen schaffe. Je mehr ich löschen würde, desto mehr hätte ich wieder den Durchblick und umso geringer würde mein Gefühl der Unfähigkeit ausfallen, so meine Überlegung. Ich löschte also regelmässig E-Mails, Kontakte und Dokumente mit unerwünschtem Nebeneffekt.

Beispielsweise letztes Jahr unterlief mir das Missgeschick, dass ich sämtliche E-Mails und Kalendereinträge löschte. Natürlich auch das Backup und das Backup des Backups. Ich wusste zwar, dass ich jeden Tag irgendwo in Westeuropa einen Workshop moderieren, eine Weiterbildung geben oder ein Innovationsprojekt begleiten würde, doch ich hatte keine Ahnung, an welchem Ort, mit welchem Kunden und zu welchem Inhalt. Das war nun doch etwas unglücklich. Was sollte ich nun tun? Einen Newsletter an alle versenden «Sorry, alle Termine und Kontakte gelöscht; wann treffen wir uns wo und warum?»? Das wäre nun doch etwas peinlich. Und überhaupt, die Newsletter-Liste hatte ich ja auch gelöscht.

So entschied ich mich für die Strategie der Delegation, wie ich es in meinen Management-Ausbildungen gelernt hatte: Wenn du überfordert bist, delegiere die Sache an andere, ohne dir etwas anmerken zu lassen. Delegation an «unbekannt» war also mein Plan: Ich setzte mich jeden Morgen an den Küchentisch, das Handy vor mir liegen und wartete auf den Anruf des Kunden: «Dino, wo zum Teufel steckst du?».

Wie man so schön sagt, wächst man an jeder Erfahrung. Durch dieses kleine Missgeschick, das sich über sechs Monate hinzog, konnte ich zwei neue Kernkompetenzen entwickeln, die für jeden Consultant von zentraler Bedeutung sind: Erstens, dem Kunden mittels kryptischen Fragen die relevanten Informationen aus der Nase ziehen, ohne die eigene Unfähigkeit zu entblössen. Zweitens: Mit Charisma und Selbstsicherheit überzeugende Reden halten, ohne zu verstehen, worum es beim Inhalt geht. Bei mir sah das folgendermassen aus:

Kernkompetenz Nummer 1 «Gib dir niemals die Blösse»:

Kunde: «Dino, wo bist du? Wir sind alle hier und seit zehn Minuten ready.»

Dino: «Hallo (Name leider nicht verstanden). Ich habe deinen Anruf erwartet. Seid ihr alle richtig nervös? Das ist sehr gut. Das war meine Absicht, damit ihr «vuca und disruptiv» am eigenen Leib erleben könnt.»

Kunde: (Kurze Pause) «Aha, alles klar. Clever. Das hast du definitiv erreicht. Wir dachten schon, auf dich sei kein Verlass. Wieder so ein Schaumschläger-Consultant, dem wir in die Beraterfalle gegangen sind.»

Dino: «Wo denkst du hin? Ich bin empört!»

Kunde: «Nichts für ungut, wir haben die Übung begriffen. Du kannst jetzt reinkommen.»

Dino: «Nein, nein, jetzt beginnt der wichtigste Teil: Das Debriefing und Learning. Nehmt euch zwei Stunden Zeit, ausführlich zu sharen, was die Situation mit euch gemacht hat und was ihr daraus lernt. Falls ihr früher fertig seid, könnt ihr euch überlegen, wie ihr das Learning in eure Unternehmensstrategie integriert. Ich möchte dabei nicht anwesend sein, um den Prozess nicht zu stören.»

Kunde: «Häh?»

Dino: «Aufgabe nicht verstanden? Sehr gut. Dann integriert das Klären der Fragestellung gleich in den Gruppenprozess und teilt, wie es euch damit geht.»

Damit hielt ich die Gruppe eine Weile beschäftigt und es gab mir die notwendige Zeit, auch Workshop-Termine wahrzunehmen, die am anderen Ende der Schweiz stattfanden. Mit der Zeit und der Übung wurde mir zudem ein genialer, nicht geplanter Nebeneffekt dieser Intervention bewusst: Als ich endlich vor Ort auftauchte, waren die meisten Gruppen aneinandergeraten. Einige schmollten in der Ecke, andere bewarfen sich mit Post-it und Lego oder prügelten sich mit Flipchart-Rollen. Meine Reflexions-Anleitung war dermassen unklar, dass sich die Verwirrung schnell zum Konflikt hochschaukelte. Dabei dachten alle, es läge an der Gruppe selbst. Die Kompetenz des externen Beraters wird per se nicht in Frage gestellt. Meine Verspätung hatte einen «die Ankunft des Erlösers»-Effekt. Ich brach die Übung einfach ab und richtete einige beruhigende Worte an die Gruppe, was die Empfindung der Abhängigkeit in Bezug auf den externen Berater verstärkte und meine Auftragslage nachhaltig sicherte.

Aber nun halten Sie sich fest. Wirklich stolz bin ich jedoch auf meinen Trick, wie ich den Namen des Kunden und den Ort der Veranstaltung in Erfahrung bringen konnte. Richtige Profi-Arbeit war das. Das hatte ich in einem Master of Advanced Studies in «Disruptiv Mindset, CEO Centricity and Enabling Creativity» gelernt:

Dino: «Noch eine letzte Sache».

Kunde: «Äh, ja bitte?»

Dino: «Ich habe noch ein massgeschneidertes creative Warmup für euch vorbereitet. Hör gut zu.»

Kunde: «Ah, cool.»

Dino: «Ihr habt eine Minute Zeit für folgende Aufgabe: Ein Gruppen-Selfie machen, alle Namen der Teilnehmer auf ein Flip-Chart schreiben, eine Skizze eurer Firma zeichnen, ein Rollenspiel aufführen, was ihr unter dem Ziel und Inhalt des Workshops versteht und eine Landkarte zeichnen, wie die Customer Journey vom Bahnhof bis zum Workshop-Raum aussieht. Dann schickst du mir alles per E-Mail. Die hast du ja.»

Nicht übel, oder? Beinahe radikal innovativ.

Improvisation pur, die ich mit etwas Erfahrung aus dem Showbusiness zur absoluten Spitzenleistung führte.

Doch das Beste kommt noch! Kernkompetenz Nummer zwei «Grossartige Reden, ohne eine Ahnung zu haben». Sozusagen Next Level-PowerPoint-Karaoke. Sie kennen das Spiel nicht? Das geht so: Das ist noch schwieriger als die klassische Karaoke, das Singen eines Songs mit Untertiteln. Man muss einen Vortrag zu einem Thema halten, das man nicht kennt und sich der Referentin erst mit der Titelfolie eröffnet. Auch die darauf folgenden Folien sind in der Regel so aufgebaut, dass man sich permanent verheddert und seine Storyline laufend anpassen muss. Das Ziel der Rednerin oder des Redners ist es, von A bis Z Selbstsicherheit und Ernsthaftigkeit auszustrahlen, unterbruchslos weiterzureden, ohne zu verstehen, worüber man eigentlich referiert. Bei mir bedeutete Next Level, dass ich nicht mal auf einen Foliensatz zurückgreifen konnte. Das einzige, was ich dank meiner Warmup-Intervention wusste, war der Name des Kunden und das Ziel des Workshops aus dessen Perspektive. Nun galt es, auf dieser Basis einen ganzen Tag oder sogar einen einwöchigen Sprint aus dem Stehgreif zu moderieren. Improvisation pur, die ich mit etwas Erfahrung aus dem Showbusiness, ich habe in einem Kinderzirkus gearbeitet, schnell zur absoluten Spitzenleistung führte.

Meine Geschäftspartner waren etwas weniger erfreut über meine digitalen Aufräumaktionen, zumal ich damit beinahe die Firma in den Ruin trieb. Denn ich hatte alle Kundendaten gelöscht, wodurch ich auch keine Rechnungen stellen konnte. Es gibt zwar den spirituellen Bestseller «Bestellungen ans Universum», doch meine Rechnungen endeten nur in schwarzen Löchern. Wir arbeiten oft und gerne für gemeinnützige Organisationen und auch beinahe gratis, wenn es für eine gute Sache ist. Doch ich solle es mit Karmapunkte sammeln bitte nicht übertreiben, so meine Partner. So kam es, dass ich während eines halben Jahres praktisch keine Rechnungen ausstellte, ausser jenen Kunden, die sich ehrlicherweise bei uns meldeten, wann denn die Rechnung komme? Tja, es ist wie sonst im Leben: Die Zeche bezahlen die Ehrlichen.

212 Reaktionen

Kommentare

12 Kommentare
Sonja Lens

Ich hoffe, vieles entspringt eurer Fantasie und ist nicht Wahrheit... so oder so: sehr witzig

Dino (Autor) | Superloop InnovationSonja Lens

Wie immer sagen wir: "Die Geschichten, die mit der Grenze zwischen Realität und Fiktion spielen, sind überspitzt und Ähnlichkeiten mit realen Personen, Unternehmen oder Ereignissen sind rein zufällig." ... wobei die Ähnlichkeit im vorliegenden Fall auf der Hand liegt :-)

Gian R.

Ich werde dich nie wieder als Digi-Experten buchen, lieber Dino ;-)

Dino (Autor) | Superloop InnovationGian R.

Davon würde ich dir auch freundlichst abraten, lieber Gian. Alles andere können wir gerne weiterhin zusammen verbrechen. :-)

Aley

Ist dir das wirklich so passiert? Ihr schreibt "die Linie zwischen Wahrheit und Fiktion ist nie trennscharf - nichts ist so passiert, aber frei erfunden ist es doch nicht". Mit diesem Kapitel strapaziert ihr (auf die humorvolle Art) meine Nerven, was wohl Realität ist. Hihi

Dino (Autor) | Superloop InnovationAley

Sehr schön. Wie immer antworten wir "Die Geschichten, die mit der Grenze zwischen Realität und Fiktion spielen, sind überspitzt und Ähnlichkeiten mit realen Personen, Unternehmen oder Ereignissen sind rein zufällig..." im Falle "Dino, der Digitalisierungsexperte" ist die Zufälligkeit nur "fast rein" :-)

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